Interview mit einem Schüler der Kompositionsklasse von Ligeti
Interview mit dem Tagesspiegel
Interview mit Louise Duchesneau (1992)
Duchesnau: Die Entstehungsgeschichte Ihres Violinkonzerts ist etwas ungewöhnlich; es gibt zwei Fassungen. Die ursprüngliche Fassung wurde November 1990 in Köln uraufgeführt. Der Solist war Saschko Gawriloff; ihm ist das Werk auch gewidmet. Was hat Sie dazu bewegt, sich erneut einer Gattung der traditionellen Literatur zu nähern, nachdem Sie schon ein Klavierkonzert und ein Cellokonzert komponiert haben?
Ligeti: 1982 schrieb ich mein Horntrio, das ebenfalls Saschko Gawriloff uraufgeführt hat. Nach vielen guten Aufführungen dieses Stückes hat Saschko gefragt, ob ich bereit wäre, ein Konzert für ihn zu schreiben, und ich sagte natürlich ja. Beim Komponieren des Horntrios habe ich gezielt eine Alternative zum temperierten System gesucht; das hat mich immer interessiert, und die Lösung, die ich damals fand, ist unmittelbar mit der Besetzung verbunden: das Klavier ist temperiert, die Geige ist in reinen Quinten gestimmt, und in den ersten drei Sätzen schrieb ich für Naturhorn. Erst nachdem ich diese verschieden gestimmten Ebenen gehört habe, entwickelte ich meine Vorstellungen für das Violinkonzert. Eigentlich gäbe es ohne das Horntrio kein Violinkonzert.
Duchesneau: Sie schrieben also eine dreisätzige Version, die Sie dann überarbeitet und auf fünf Sätze erweitert haben. So war die Komposition dieses Werkes, das im Oktober 1992 in der endgültigen Form uraufgeführt wurde, offensichtlich kein leichter Prozeß.
Ligeti: Nein, durchaus nicht. Nachdem ich die erste Version gehört habe, war ich mit zwei Aspekten des Stückes unzufrieden. Ich wollte ein höchst virtuoses Werk in der Tradition der großen Violinkonzerte schreiben. Wissen Sie, ich habe immer zugleich ein geistig abstraktes Bild und ein sinnliches, taktiles Gefühl für das Instrument, für das ich schreibe. Als ich die ersten Ideen für meine Klavieretüden oder für das Klavierkonzert hatte, wurde der sinnliche Eindruck der Berührung der Klaviertasten unter meinen Fingern ein Teil meiner musikalischen Vorstellung. Wenn ich mir eine Melodie oder eine Figur vorstelle, muß ich das Instrument ,,spüren‘, und gerade dies fehlte bei der Violine. Bevor ich anfing, das Violinkonzert zu komponieren, habe ich mich, wie immer, sehr intensiv mit der Technik und mit der Literatur des Instruments beschäftigt. Meine Modelle waren Paganini, Bachs und Ysayes Solosonaten, Wieniawski und Szymanowski. Dies hat jedoch die fehlende innere Vorstellung der taktilen Empfindung der Saiten unter meinen Fingern nicht ersetzt. Ich konnte nie die Violine ,,berühren", nie wirklich die Positionswechsel spüren. Für die Violine zu schreiben war für mich wie Japanisch sprechen!
Duchesneau: Zwischen den zwei Versionen des Violinkonzerts entstand Loop, einer der Sätze der Sonate für Solo-Viola. Dieses Stück scheint Ihnen weniger Probleme gemacht zu haben.
Ligeti: Das stimmt, aber ich hätte Loop - ein sehr virtuoses, idiomatisches Stück - nicht so schnell komponieren können, wenn ich nicht schon am Violinkonzert gearbeitet hätte. Wäre das Stück für Viola zuerst gekommen, hätte ich dieselben Schwierigkeiten gehabt. Als ich Loop komponierte, waren die Grundprobleme mit der Violintechnik für mich schon gelöst (die Viola ist eigentlich nur eine größere Violine). So entstand die zweite Version des Violinkonzerts dann auch viel schneller als die erste.
Duchesneau: Sie scheint auch weniger komplex zu sein als die erste Version.
Ligeti: Ja, wissen Sie, zwischen den zwei Versionen mußte ich einige Zeit im Krankenhaus verbringen, und ich nutzte die Zeit, um die späten Streichquartette von Haydn zu studieren. Von Haydn kann man lernen, wie man die klarste Wirkung mit den einfachsten Mitteln erreicht: wenn er zwischen einer eher ornamentierten Struktur und einem Skelett entscheiden muß, entscheidet sich Haydn immer für das Skelett. Er verwendet nicht eine Note mehr als notwendig. Ich wandte dieses Prinzip, unnötige Komplexität zu vermeiden, in der zweiten Version des Violinkonzertes an und stellte fest, daß ich meiner Idealvorstellung näher gekommen war.
Duchesneau: Sie sprachen von zwei problematischen Aspekten bei der Komposition des Violinkonzerts. Was war der zweite?
Ligeti: Ich habe schon erwähnt, daß ich auf der Suche nach einer Alternative zum temperierten System war und daß viele Ideen für das Violinkonzert während und nach der Arbeit am Horntrio entstanden. Neben den ,,normalen" Orchesterinstrumenten besteht das Orchester des Violinkonzerts aus einer Violine und einer Viola mit Skordatur sowie aus vielen Instrumenten mit ungenauen Tonhöhen wie Okarinen, einer Blockflöte und Lotosflöten. Ich habe auch angegeben, wo ich Naturhorn und Naturposaune wollte oder wo die Holzbläser kleine Tonhöhenabweichungen spielen sollten. Ich suchte unpräzise Intonation und einen ,,schmutzigen" Klang. Ich wollte auch mehr oder weniger reine Spektren mittels der zwei Skordatur-Streicher, der zwei Hörner und der Posaune erzeugen; ich stellte mir wunderbare neue Harmonien vor. Besonders im ersten Satz (Praeludium: Vivacissimo luminoso) war es wie das Lösen eines dreidimensionalen Kreuzworträtsels, bei dem die drei Dimensionen - Harmonie, Melodie und lnstrumentaltechnik - perfekt zusammenpassen mußten. Die Arbeit an diesem ersten Satz, der gänzlich auf den Obertönen der Skordatur-Streicher aufgebaut ist, war sehr mühevoll. Was ich mir vorstellte, war eine Art ,,SuperGesualdo"-Klang. Doch das Tempo ist sehr schnell, und der schillernde Effekt, den ich erreichen wollte, ist nur dann wahrnehmbar, wenn alles sehr genau gespielt wird. Im zweiten Satz (Aria, Hoquetus, Choral: Andante con moto) werden die Obertöne von den Hörnern und der Posaune gespielt, weniger von den Skordatur-Instrumenten. Ich verwende in diesem Satz auch Okarinen und Lotosflöten: total ,,verstimmte" Instrumente, die sich mit den ,,richtig" gestimmten harmonischen Spektren mischen. Im dritten Satz (Intermezzo: Presto fluido) werden die Obertöne auch vorwiegend von Posaune und Hörnern gespielt, während sie im fünften Satz (Appassionato: Agitato molto) wieder in den Skordatur-Streichern erscheinen.
Duchesneau: Sie erwähnten Ihr Interesse für alternative Stimmsysteme. War Ramifications, in dem zwei Streichergruppen einen Viertelton auseinander gestimmt sind, das erste Stück in dieser Richtung?
Ligeti: Blicke ich zurück, wird mir klar,
daß ich - ob bewußt oder unbewußt - immer auf der Suche nach
einer Alternative zur Zwölftontemperierung war. Ich glaube,
die Idee entstand eigentlich mit meinem Stück Atmosphères
(1961). Als ich zum ersten Mal den schillernden Klang hörte,
den ich mir früher nur vorstellen konnte, verstand ich, daß
das, was ich suchte, zwischen Geräusch und musikalischem
Klang lag. Der nächste Schritt weg vom temperierten System
war das Requiem. In diesem Stück ist es für den Chor
nicht möglich, immer korrekt zu intonieren: das Stück ist
einfach zu schwer. Der schillernde Effekt resultiert also
aus den unwillkürlich hervorgebrachten
Intonationsabweichungen einer genügend großen Zahl von
Sängern und Instrumentalisten. Die Idee, Ramifications
in Vierteltönen zu schreiben, kam mir, nachdem ich das Requiem
1965 gehört hatte. Ich wollte aber nicht ein Vierteltonstück
schreiben, vielmehr war ich auf der Suche nach dem
irisierenden, ,,schmutzigen" Klang, dem ,,Schillern" von Atmosphères
und vom Requiem.
Natürlich wurde ich beeinflußt durch vieles, das ich hörte
und las, aber ich habe das Gefühl, daß ich mich bereitwillig
vom temperierten System wegführen ließ. Im Fall des Horntrios
war es natürlich Harry Partch, der mich führte - nicht so
sehr seine Musik, sondern sein Stimmsystem und dessen
Anwendung für seine Instrumente. Die Diamond-Marimba, die
ich ausprobiert habe, war für mich ein wichtiger Stimulus.
Nicht nur Harry Partch, sondern auch verschiedene ethnische
Musiken haben zu meiner wachsenden Ablehnung des
temperierten Systems beigetragen. Gamelan-Musik habe ich
seit den sechziger Jahren gekannt und geliebt, und später
hörte ich die Musik der latmul; das ist ein Volk, das auf
dem Sepik-Fluß in Neuguinea lebt und dessen Musiksystem auf
reinen Obertönen aufgebaut ist. Noch später habe ich die
seltsame und einzigartige harmonische Sprache Claude Viviers
kennengelernt. Spuren dieses Eindrucks können Sie im 2. Satz
meines Violinkonzerts finden. Zuletzt muß ich auch
den Einfluß des Yamaha DX 7 II erwähnen. Obwohl ich von den
vielfältigen Klang-möglichkeiten dieses Instruments wirklich
beeindruckt bin, habe ich mich am Ende entschieden, es nicht
zu benutzen, da ich den elektronischen Klang nicht mag. Ich
habe es aber zur Vorbereitung des Stückes verwendet, um mit
verschiedenen Stimmsystemen zu experimentieren, die ich dann
auf akustische Instrumente übertrug.
Duchesneau: Im Zusammenhang mit dem Violinkonzert spricht der Komponist und Musikwissenschaftler Stephen Ferguson von ,,Polytemporalität", um auszudrücken, wie ,,in der Knappheit eines einzelnen Werkes die scheinbar disparaten Stufen einer heterogenen Imagination zu dem erklärt werden, was sie sind - homogen." Würden Sie sagen, daß dies beim Violinkonzert zutrifft?
Ligeti: Fergusons Text ist wunderbar,
aber ich frage mich, ob ,,Polytemporalität" nicht zur
Begriffswelt der ,,Postmoderne" gehört, und damit verbinde
ich sehr ambivalente Gefühle. Trotzdem, es ist wahr, daß ich
sehr heterogene Elemente verwende: so habe ich im zweiten
Satz die polyphone Technik von Machauts Hoquetus David
angewandt, mit der Melodie meiner dritten Bagatelle für
Bläserquintett als Cantus Firmus. Ein weiteres
Beispiel: der glockenähnliche Flöten- und
Streicherpizzicatoeffekt am Ende des 5. Satzes stammt aus
Schostakowitschs Vierter Symphonie.
Oder der von den Blechbläsern gespielte Choral am Ende
des zweiten Satzes, der sicherlich von den Chorälen in
Strawinskys Symphonies pour instruments à vent
beeinflußt ist. Viele Schichten von bewußten und unbewußten
Einflüssen werden zu einem organischen, homogenen Ganzen
verknüpft: Afrikanische Musik mit fraktaler Geometrie,
Maurits Eschers Vexierbilder mit nicht temperierten
Stimmsystemen, Conlon Nancarrows polyrhythmische Musik mit
der Musik der ,,Ars Subtilior". Aber damit etwas Neues und
Komplexes entstehen kann, versuche ich immer, diese äußeren
Impulse mit meinen inneren Bildern und Ideen zu
verschmelzen.
Der Komponist György Ligeti über Seilschaften, SeIbstkritik und über den Geist der Musik
Er gilt als einer der bedeutendsten lebenden Komponisten. Nun wird György Ligeti eine besondere Ehre zuteil: Zu seinem 80. Geburtstag im Mai 2003 soll sein Gesamtwerk auf CD vorliegen – in einer von ihm autorisierten ,,Ausgabe letzter Hand". Seit 2000 setzt die Firma Teldec das von Sony mit acht CDs begonnene Projekt fort, gerade ist die zweite von fünf geplanten Teldec-CDs erschienen.
Der gebürtige Siebenbürgener arbeitete nach seiner Flucht in den Westen von 1957 bis 1959 am berühmten Studio für Elektronische Musik in Köln und gehörte als Dozent der Darmstädter Ferienkurse zu den profiliertesten Vertretern der Avantgarde. Als Professor unterrichtete er an den Musikhochschulen in Stockholm und von 1973 bis 1989 in Hamburg.
Ligeti ist österreichischer Staatsbürger und lebt abwechselnd in Hamburg und Wien.
Crescendo: Umfasst das Ligeti-Projekt wirklich Ihr gesamtes Werk oder nur eine Auswahl?
Ligeti: Ich habe mit 14 angefangen zu komponieren, und diese Stücke sind nicht dabei. Aber alles, was ich für gültig erkläre.
Crescendo: Ist Ihnen die Entscheidung schwer gefallen?
Ligeti: Ja! Mein Werk ist sehr bunt – wie mein Leben. Ich bin in Siebenbürgen geboren, ging dann nach Budapest, studierte nach dem Krieg, und da war ich ein richtig ungarischer Komponist. Ich habe mich sehr viel mit ungarischer und rumänischer Volksmusik beschäftigt, habe an der Musikhochschule in Budapest unterrichtet und war Teil der ungarisch-nationalen Musikbewegung. Dann kam die kommunistische Herrschaft. Ich habe mich hinter der Folklore verschanzt, das war mein Schutzschild. Folklore war erlaubt. Nachdem ich Ungarn verlassen hatte - illegal -, hat sich selbstverständlich auch mein Stil geändert. Ich bin derselbe Mensch geblieben, aber die Kenntnisse von der Welt und die Bestrebungen ändern sich. Mein Werk ist also irrsinnig bunt ... es ist sehr schwer auszuwählen. Ob ich richtig entschieden habe, wird man erst nachträglich feststellen.
Crescendo: Sie haben mal gesagt, es gibt Aspekte, die nur der Komponist direkt dem Interpreten vermitteln kann. Wie groß ist denn die Freiheit des Interpreten?
Ligeti: Sehr groß. In Interpretationsfragen, in welchem Geist etwas gemacht wird, mische ich mich nicht ein. Aber es soll in guter Qualität gespielt werden. Und dann gibt es noch etwas anderes, was einige Dirigenten Metaphysik nennen, was nicht in den Noten steht. Das ist sehr wesentlich. Ich habe früher mal ein heute berühmtes und wunderbares Streichquartett gehört, mit Mozart. Da war alles absolut richtig und notengetreu, aber es war nicht der Geist von Mozart. Was ist der Geist von Mozart? Das sind bestimmte Betonungen, ein Rhythmus ist gegeben, aber wie dieser Rhythmus schwingt, wo eine ganze Kultur der Wiener Tradition dahinter steht ... das kann man nicht unterrichten. Und das kann man in die Noten nicht hineinschreiben. Das betrifft sogar Leute wie mich.
Crescendo: Hat es Sie nie gedrängt, selbst zu dirigieren?
Ligeti: Doch, ich habe dirigiert. Aber ich bin unbegabt. Ich habe das Leuten überlassen, die es besser können. Und ich habe viele Instrumente ein bisschen gelernt, aber keines gut, weil mein Vater keine Musik wollte. Erst mit 14 habe ich angefangen, Klavier zu lernen, und das ist sehr spät. Dabei könnte ich ein wunderbarer Pianist sein, ich weiß so vieles über Interpretation, über diese Metaphysik, nicht nur meiner Musik. Diese Dinge kann man nicht gut erklären. Die begabten Musiker spüren das.
Crescendo: Wie sind Sie denn Komponist geworden?
Ligeti: Ich hatte im Jahr 1941 Abitur gemacht und wollte Physik und Mathematik studieren, aber ich wurde wegen meiner jüdischen Abstammung nicht aufgenommen. Das waren noch nicht die Nazi-Gesetze, die kamen später. Aber es gab die Möglichkeit, die Aufnahmeprüfung am Musikkonservatorium zu machen, denn dessen Direktor nahm die antijüdische Gesetzgebung einfach nicht zur Kenntnis. Und so habe ich zweieinhalb Jahre am Konservatorium studiert, bis der Krieg kam. Nach dem Krieg stellte sich die Frage: Kehre ich zurück zu Physik/Mathematik oder mache ich mit der Musik weiter. Ich bin illegal über die Grenze von Rumänien, zu dem Klausenburg nach dem Krieg gehörte, nach Budapest gegangen und habe da die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule bestanden, und so ist es geschehen. Es hat sich ergeben, es war keine bewusste Wahl.
Crescendo: Wie komponieren Sie? Sitzen Sie am Flügel oder haben Sie die Musik im Kopf und schreiben sie auf?
Ligeti: Beides. Von meiner Flucht aus Ungarn 1956 bis Mitte der sechziger Jahre hatte ich kein Klavier zur Verfügung. Ich wohnte in sehr finsterer Untermiete und die Kompositionen schrieb ich in einem großen, billigen Wiener Kaffeehaus, wo man bei einer Tasse Kaffee den ganzen Tag sitzen konnte. Da hab ich meine Orchesterstücke Apparitions, Atmosphères und andere geschrieben. Das ging, denn es sind chromatische Stücke, da musste man nicht viel ausprobieren. Heute komponiere ich einiges am Flügel, die Klavierstücke zum Beispiel. Das muss pianistisch sein, das muss aus den Fingern kommen.
Crescendo: Sie haben vor kurzem gesagt, die europäische Musik brauche eine kulturelle Injektion von außereuropäischer Musik, die sie aus der Sackgasse bringen könne. Sehen Sie die europäische Musik in einer Sackgasse?
Ligeti: Ja, die Musik ist seit Wagner und der Richtung, die dann von Schönberg, Berg und Webern fortgesetzt wurde, sehr weit entfernt von dem, was man auf Englisch als "vernacular", also volkstümlich oder populär, bezeichnet. Dagegen hat Strawinsky russische Volkslieder verwendet und Bartók ungarische, arabische und türkische Folklore. Ich neige eher zu dieser antiwagnerianischen Auffassung. Vieles bei Haydn, Mozart und Beethoven war populär, wie z. B. die Zauberflöte, aber keine Volksmusik. Ich für meinen Teil will nicht in die vollständige Abstraktion - wo ich mehr oder weniger Anfang der sechziger Jahre war. Aus Protest gegen meine eigenen folkloristischen Stücke in Ungarn. Sehr vieles in meiner musikalischen Denkweise wurde von der Kenntnis afrikanischer, südostasiatischer und lateinamerikanischer Musik beeinflusst. Ich benutze sie nicht, aber sie erweitert den Horizont. Und ich meine, dass sich ein Teil meiner Kollegen, die offizielle Avantgarde, sehr dagegen abschließt: Man darf nicht populär sein. Das ist dieses Adorno‘sche Elitedenken, besonders hier in Deutschland. Wer populär ist, hat sich dem Kommerz verkauft. Ich bin absolut kein Anhänger des Weltkommerzes, aber die Arroganz der Unpopularität, dass sie ein Kriterium sein muss für gute Musik, finde ich lächerlich.
Crescendo: Meinen Sie, es ist eine Frage der Zeit und der Bildung, bis breite Bevölkerungsschichten einen Zugang zu nicht-tonaler Musik finden?
Ligeti: Das wird nicht stattfinden. Das werden einzelne elitäre Leute sein. Man kennt das, was man hört in der Musik. Und man hört dauernd Dur und Moll. Im Fernsehen und im Radio hört man zu 99 Prozent tonale Musik. Da ist schon der Zugang zu früher europäischer Musik erschwert. Diese wunderbare Musik aus dem 13., 14., 15. Jahrhundert kennt das große Publikum nicht. Aber wenn sie es kennen würden, würden es sie lieben.
Crescendo: Das heißt, Sie haben gar nicht die Hoffnung, dass Ihr Werk einmal eine größere Hörerschaft erreichen wird?
Ligeti: Doch, aber das hängt an den programmbestimmenden Leuten im Rundfunk oder im Fernsehen. Ich habe für arte einen Videofilm produziert, drei Etüden von mir, die Pierre-Laurent Aimard ganz wunderbar erklärt. Wenn Leute, die mit dieser Musik nichts anfangen können, das hören - und sehen -, verstehen sie sofort.
Crescendo: Was halten Sie vom Umweg über Filmmusik wie zum Beispiel in ,,200l - Odyssee im Weltraum"?
Ligeti: Ja, ohne mein Wissen hat Stanley Kubrick meine Musik genommen, ohne Erlaubnis, ohne zu zahlen. Ich habe ihn nie kennen gelernt. Aber prinzipiell finde ich es in Ordnung, selbstverständlich. Ich bin ein begeisterter Anhänger von Kubrick. Und er war ein Anhänger von mir. Nur wusste ich das nicht.
Crescendo: Das ist ja vielleicht ein Weg, um den Menschen schwierigere Musik nahe zu bringen.
Ligeti: Ja, aber die Filme brauchen meistens keine schwierige Musik.
Crescendo: Eine Gesamteinspielung ist ja auch ein Anlass, ein Zwischenresümee zu ziehen und zurückzuschauen.
Ligeti: Aber ich schaue nicht zurück. Einiges gefällt mir, und einiges gefällt mir gar nicht. Es gibt eine Strawinsky-Gesamteinspielung, auf der Strawinsky zum Teil seine eigene Musik dirigiert hat. Und in einer Probe, das ist auch auf einer dieser Platten, sagt er - er wollte eine Stelle ein bisschen anders phrasiert haben - ,,You know, I love my music". Das fand ich sehr lieb von Strawinsky. Ich kann nicht sagen, dass ich ... I don‘t love my music. Ich bin sehr streng mit mir, mit anderen Leuten auch.
Crescendo: Aber es gibt schon musikalische Kinder, auf die Sie stolz sind?
Ligeti: Das Wort Stolz würde ich nicht in den Mund nehmen. Ich glaube, unter den bisher existierenden 18 Klavieretüden gibt es einige, in denen ich Neues versucht habe - was in diesem bescheidenen Rahmen gelungen ist.
Crescendo: Das ist alles, von dem Sie uneingeschränkt sagen ...
Ligeti: Nein! Meine Stücke für zwei Klaviere, 1976, in der Zeit, wo ich Le grand macabre geschrieben habe, finde ich gelungen. Die Oper nicht. Ich bin kein guter Anwalt meiner Musik.
Crescendo: Im Booklet der neuen CD ist ein Notizblatt abgebildet, auf dem Sie auf Deutsch, Englisch und Französisch etwas aufgeschrieben haben, es geht ziemlich durcheinander.
Ligeti: Das muss die erste Etüde sein. Ja, wenn ich für mich selbst schreibe, denke ich nicht darüber nach. Meistens schreibe ich ungarisch. Aber manchmal ist ein italienischer Ausdruck besser, manchmal das französische Wort, ich kümmere mich darum nicht. Ich spreche eine Anzahl von Sprachen, und ich verwende, was in meinem Bleistift ist.
Crescendo: Und wenn Sie träumen?
Ligeti: Träumen tu‘ ich ungarisch. Und ich zähle ungarisch.
Crescendo: Könnten Sie sich vorstellen, jemals wieder nach Ungarn zurückzugehen? Nach Budapest?
Ligeti: Um dort zu leben? Vorstellen kann ich es mir wohl, aber ich werde es nicht tun. Ich war in dieser Sowjetdiktatur, und irgendwo dauert das noch nach. Es ist jetzt absolut antisowjetisch, aber in der Mentalität ist so vieles geblieben. Immer wenn eine neue Regierung kommt, werden bewährte Leute z. B. aus dem Rundfunk und anderen Institutionen, wo die Regierung ihre Hände drin hat, rausgeworfen, und es kommen neue Leute, die der Regierung genehm sind. Das lehne ich ab. Es ist noch keine so genannte Zivilgesellschaft - wo man in Ruhe gelassen wird und nicht immer die eigene Seilschaft bevorzugt, sondern professionelles Können. Das ist noch nicht da in den Ex-Ostblockstaaten. Aber gibt es das überhaupt irgendwo? Wahrscheinlich lebe ich in einer Utopie.Crescendo: Würden Sie sich als ungarischen - oder europäischen - Komponisten bezeichnen?Ligeti: Ich bin aus Siebenbürgen. Das ist nicht ganz dasselbe wie Ungarn.
Crescendo: Aber stecken diese geografischen Wurzeln in Ihrer Musik? Oder ist das keine Kategorie für Ihr Werk?
Ligeti: Nein, keine. Auch europäisch nicht. Ich hab‘ so vieles ... ich war auch gern in Amerika. Nicht ganz gern, aber halb gern.